An Antiquarian and his Book Collection
Oliver Jahn, 29. März 2019
Originally appeared in Architectural Digest
Ruhig und schwer rollt der Rhein zu unseren Füßen. Ein sonniger Wintertag, der das weitläufige Anwesen der Bibermühle auf einer Anhöhe in milchiges Mittagslicht taucht. „Sonst führt er viel mehr Wasser“, empfängt Heribert Tenschert den Besucher mit einem Seitenblick den Parkabhang hinunter. Seit gut 25 Jahren beherbergt der vielleicht bedeutendste Antiquar unserer Zeit hier seine bibliophilen Schätze, es mögen weit über 200 000 Bände sein, so genau weiß das nicht einmal er selbst. Ramsen, nur ein paar Kilometer hinter der deutschen Grenze, nicht weit vom Bodensee entfernt auf der Schweizer Seite. Die Bibermühle ein Antiquariat zu nennen greift angesichts dessen, was den Besucher erwartet, doch zu kurz, längst ein Wallfahrtsort des gedruckten (und auch des handgeschriebenen) Wortes, dessen Namen sich Connaisseurs zuraunen wie eine Zauberformel.
„Ich wollte dem Buch und seiner Geschichte in all ihren Ausprägungen eine Kathedrale errichten“, erzählt Tenschert und schließt die Tür auf zu der an die Villa angrenzenden Remise, die er aufwändig ausbauen ließ. Wer an seinen Ständen auf der Tefaf in Maastricht oder New York einmal einen tiefen Blick in die Vitrinen genommen hat, bekommt eine leise Ahnung, was einen erst hier in diesem hortus conclusus erwarten mag – besitzt Tenschert mit über 400 Exemplaren doch unter anderem die größte private Sammlung von Stundenbüchern, die es gibt. Damit nicht genug. Während wir eine Enfilade regalgesäumter Räume durchmessen, über und über gefüllt mit kostbarst gebundenen Werken der gesamten Geschichte des Buchdrucks, ist es, als tauche man auf einen Meeresgrund und damit in eine vergangene Zeit. Was, wenn der legendäre Schatz der Nibelungen, den Hagen von Tronje der Sage nach im Rhein versenkte, in Wirklichkeit aus Büchern bestünde? In Maroquin oder Pergament gebunden, gedruckt auf feinstes Japan- oder Chinapapier, von Herrn Tenschert gehoben und geborgen in dieser Basilika der Bücherliebe?
Wir treten vor einen riesigen Tisch, darauf Hunderte von Büchern verschiedensten Formates, gegen das Licht geschützt von einem dieser schweren Teppiche, wie sie Vermeer gemalt hat. Tenschert zieht den Stoff beiseite. „Willkommen in meinem ,Univers Romantique‘. 600 Titel, das illustrierte französische Buch des 19. Jahrhunderts. Es hat mich zehn Jahre gekostet, diese Kollektion zusammenzutragen.“ Ein enzyklopädisch angelegtes Unterfangen leuchtet auf in grüner, roter, blauer Reliure als Kaleidoskop der französischen Geschichte, Politik und des Pariser Alltagslebens und modelliert in immer neuen Variationen das Ringen der Grande Nation um ihr Selbstverständnis zwischen Monarchie und Republik, zwischen Restriktion und Zensur auf der einen und Freiheit und offenem Wort auf der anderen Seite. Tenschert greift einen Schuber aus der Reihe, stürzt ihn quer aufs Knie und stößt mit geübter Bewegung den Band aus seiner Hülle. Honoré de Balzacs „Contes drolatiques“ von 1855, mit 425 Holzschnitten von Gustave Doré, auf China gedruckt. Meine Wangen glühen, während ich blättere. „Eine Reliquie“, verrät Tenschert genüsslich lächelnd. „Es ist das Exemplar aus dem Besitz von Balzacs Gattin Ewelina Hańska, die er erst wenige Monate vor seinem Tod endlich geheiratet hatte.“ Mit dieser Zimelie setzt Tenschert gleich die Pace für die Rallye durch seinen Kosmos, der ich atemlos die nächsten Stunden folge und deren Stationen sich hier nur im Streiflicht andeuten lassen. Die großen Autoren der Zeit, neben Balzac Victor Hugo, Théophile Gautier, Alfred de Musset, Stendhal, quer durch die Gattungen rasen wir durch Satire und Karikatur zwischen Romantik, Fantastik und Realismus, illustriert von den Granden der Epoche, allen voran Honoré Daumier, gefolgt von Gustave Doré, Paul Gavarni, Tony Johannot, Jean Grandville, Achille Devéria, Louis-Léopold Boilly, Trimolet, Gigoux oder Charlet und nicht zuletzt Eugène Delacroix, dessen abgründige Faust-Bebilderung der alte Goethe noch zu Gesicht bekommen hat.
Verblüfft schon die Vollständigkeit und Breite der Sammlung, lässt einem die individuelle Qualität der Exemplare das Herz in die Hose rutschen. „Schauen Sie hier, Bernardin de Saint-Pierres ‚Paul et Virginie‘ von 1838 in fünf Chinapapier-Exemplaren mit Original-Zeichnungen, Druckstöcken und sogar einem Ölbild. Beiliegend ein Brief Napoleons an den Verfasser! Oder hier die ‚Chants et chansons populaires de la France‘, drei von vier bekannten illuminierten Exemplaren mit 145 Original-Zeichnungen, die schönste vorstellbare Folge dieses ganz in Stahlstich gehaltenen Hauptwerks.“ Wir schwelgen uns durch Suiten von Grandville und Gavarni und landen bei überragend gedruckten, großformatigen Dorés – darunter die beiden 1873 erschienenen Bände der Werke des Rabelais, das wohl einzige Exemplar auf Pergament im Imperial-Folio gedruckt. „Ich weiß, das ist auch für mich eine nahezu heillose Zumutung an unser bibliophiles Fassungsvermögen!“
In der Tat. Niemals wieder könnte man eine solche Sammlung zusammentragen – Heribert Tenschert gelang es seinerseits, das Lebenswerk anderer berühmter Sammlerkollegen in seiner collector’s collection zu vereinen und auszubauen. Es versteht sich bei solcher Historie fast von selbst, dass die Sammlung nur komplett abgegeben wird, und sie hat naturgemäß den – gerechtfertigt – stolzen Preis von zwölf Millionen Euro.
Angesichts der hier paradierenden, fast niederschmetternden Pracht dessen, was Genie der Illustratoren und Virtuosität der Setzer, Drucker und Binder hervorgebracht hat, droht man einen zentralen Aspekt zu übersehen. Natürlich ist der Mann auch Händler.
Am Ende des Tages sollen die Bücher einen Käufer finden. Aber er hat es nicht eilig. Hier hat jemand mit größter Kennerschaft, Beharrlichkeit und Obsession zusammengebracht, was über Jahrhunderte zerstreut worden ist und dabei seinen inneren Zusammenhang verloren hat. Diesen wiederherzustellen ist der kulturelle Aspekt des Sammelns. Bewahrung. Die Stundenbücher oder eben das „Univers Romantique“ (von den illustrierten französischen Büchern des 18. Jahrhunderts ein paar Zimmer weiter dort am Rhein wollen wir heute schweigen) gehören ins Museum, ob in den Louvre oder in das gerade entstehende Deutsche Romantik-Museum in Frankfurt, ins Gutenberg oder Klingspor. Natürlich braucht es Gönner, die helfen in Zeiten ausgetrockneter Ankaufsetats. Das wäre was für Lagerfeld gewesen oder Pierre Bergé. Hier könnten ermüdete Kunst-Aficionados ein Erweckungserlebnis finden. Was für ein Paukenschlag und zugleich Krönung einer Sammlerleistung wäre es, könnte man dieses Lebenswerk der Öffentlichkeit zugänglich machen. Uns allen bleibt in jedem Fall der hinreißende Katalog. Vier Bände, 13 Kilo, Tausende von Bildern – monumental im Auftritt, doch weit mehr noch beglückender Musenhain, tritt man erst einmal hinein. Herr Tenschert lächelt, greift ins Regal und flüstert: „Ich muss Ihnen noch etwas zeigen.“